Eisenbahn: Die «Linksufrige»

Quelle: Aus der Ortsgeschichte von Richterswil V 1985 von Heinrich Peter

Eigentlich wäre es Sache einer eigenen Abhandlung, ja gerade Stoff zu einem Buche, alle mit Richterswil zusammenhängenden Eisenbahnfragen zu behandeln. Aus Anlass der Hundertjahrfeier der linksufrigen Linie ist darüber viel geschrieben worden und so wollen wir uns im Rahmen unserer «Verkehrsgeschichte» auf das dazu Nötige beschränken. Schon in den 1860er Jahren begegnen wir im «Anzeiger vom Zürichsee» zahlreichen Einsendungen, die mit der «Wasserstrasse», dem damals erst ein Vierteljahrhundert alten Dampfschiffbetrieb, gar nicht mehr zufrieden waren, besonders wegen der schlechten Bahnanschlüsse in Rapperswil und dann vor allem bei Nebelwetter. Da glaubten die armen Reiselustigen «im Läuten der Schiffsglocke und der Glocken an den Kahnlandungsstellen ihre eigene Totenglocke zu hören», bis das heranfahrende Dampfschiff endlich den wartenden Kahn mit den vor Angst und Kälte zitternden Passagieren gefunden hatte. Ein anderer Einsender vermutet hinter dem mangelnden Eisenbahninteresse der Richterswiler die Bindung an die Interessen der eigenen Schiffsgesellschaft «Republikaner». In den 1870er Jahren strotzt die «Grenzpost» von vorbereitenden Inseraten, Bekanntmachungen, Bahn-Stellenausschreibungen und Expropriationsanzeigen.
Der grundlegende Vertrag vom 4. Juli 1872 sah die linksufrige Linie der Nordostbahngesellschaft vom Zürich bis Weesen vor, wo sie Anschluss an die Linie Zürich – Uster – Rapperswil – Weesen – Chur der Vereinigten Schweizer-Bahnen finden sollte, die zwischen 1855 und 1860 eröffnet worden war. 1874 wurden die Arbeiten vergeben und so gefördert, (noch ohne Motoren, nur mit Pickel, Schaufel und pferdegezogenen Rollwagen!) dass am 20. September 1875 schon der Betrieb aufgenommen werden konnte. Nach der «Grenzpost» vom 22. September wurde hier der Eröffnungszug vom 18. September von der gesamten Schuljugend am 11.15 festlich empfangen, und wie an anderen Orten kredenzten weissgekleidete Jungfrauen während der vier zugemessenen Minuten Aufenthalt den Ehrenwein. Bei der Rückfahrt von Glarus um 1913 «erglänzte Richterswil der ganzen Bahnlinie entlang in einem Lichtermeer von über 1500 Fackeln, welche aus dem Petroleum getränkter Turben bestanden. Sämmtliche Schuljugend am Bahnhof mit chinesischen Papierlaternen, im Hintergrund der 200 Fuss hohe Springbrunnen des Herrn Zinggeler, bengalisch beleuchtet, dies Alles gewährte einen Anblick, gegen welchen eine sogenannte ‘italienische Nacht’ nur ein ‘Spreuz’ . . .». Da ist der Beweis, dass sowohl der bis achtzig Meter hohe Springbrunnen (in den letzten Jahren zwar nicht mehr häufig in Betrieb!) als auch die Bundesfeierbeleuchtung schon auf eine lange Tradition zurückblicken können!
Leider erfolgte schon am 22. September 1875 in Horgen unmittelbar nach dem Passieren eines Güterzuges ein Erdrutsch, der Land und Schienen auf etwa 250 m Länge und fast 50 m Breite im See verschwinden liess. Bis das sofort auf festerem Boden erstellte Geleise als sicher genug gelten konnte und Station und Güterschuppen verlegt waren, mussten die Dampfboote nochmals mehrere Monate einspringen. Sie verbanden die acht von und nach Zürich verkehrenden Züge in Horgen durch vorerst drei, nachher vier Kurse in jeder Richtung mit Wädenswil und Richterswil. Eine ebenfalls, wenn auch weniger gefährdete Stele befindet sich in Richterswil zwischen Garnhänke und dem Seegarten; eine Schicht aus besonders «lebendigem» Sand lässt dort das Ufer auch heute noch nicht ganz zur Ruhe kommen. Ganze Güterzüge voll in den See geleerter Steine, darunter das Gemäuer des 1927 abgebrochenen alten Bahnhofs Enge, vermochten das Bahntrassee nicht genügend zu sichern. Erst die Verlegung landeinwärts anfangs der Dreissigerjahre schaffte Abhilfe. Von damals stammt der leider unbepflanzte, nackt wirkende Streifen mageren Graslands zwischen Bahn und Quaistrasse, an der immer noch Senkungen beobachtet werden, die zwar dem dort 1977 plazierten Bootshafen kaum gefährlich werden können.

Obwohl die Buchdruckerei der «Grenzpost» schon vor der Bahneröffnung «Fahrtenplänchen der von Richterswil abfahrenden Dampfboote, Eisenbahnzüge und Posten à 10 cts.» offerierte, hat wohl keines davon die hundert Jahre überlebt und so begnügen wir uns mit dem einen Ausschnitt aus David Bürklis Reisebegleiter.

1 Inserat aus der Grenzpost: NOB-Sommerfahrtenplan ab 1. Juni 1875.

Die Fahrzeit Zürich-Horgen betrug damals mindestens fünfzig Minuten, wie dem in der Zeitung nach dem Horgener Erdrutsch veröffentlichten provisorischen Fahrplan zu entnehmen ist. Das wiedergegebene Cliché aller Eisenbahninserate jener Jahre verrät noch deutlich die Herkunft der Eisenbahnwagen von der Postkutsche, deren damalige Spurweite von 1,435 m in England übernommen worden war und uns von dort her samt Weichensystem und Linksverkehr geblieben ist. Und wer staunt nicht: Die SBB-Spurweite soll fast genau derjenigen übereinstimmen, die die römischen Karren im Alpengranit hinterlassen haben!
Jede Bahngesellschaft gab anfänglich eigen Fahrpläne heraus, und es blieb das Verdienst des – Schokoladenfabrikanten Suchard, dem Publikum das erste Gesamtkursbuch der Schweiz gegen 1890 zur Verfügung gestellt zu haben. Zwar begegnen wir «David Bürklis Reisebegleiter für die Schweiz» schon früher in Form eines noch sehr kleinen und dünnen Büchleins. 1893 kam das erste amtlich Kursbuch heraus, also beinahe fünfzig Jahre nach der Spanischbrötlibahn!
Nach dem auch die Eisenbahn enthaltenen Postfahrplan von 1892 kamen damals in Richterswil neun Züge von Zürich an, von denen fünf nach Glarus weiterfuhren. Nur ein Schnellzug am Vormittag (während der Sommersaison zwei) bediente Zürich Enge, Wädenswil und Ziegelbrücke-Niederurnen, von wo er als einziger direkter Zug des Tages nach Chur weiterfuhr mit Halten in Weesen, Sargans, Ragaz-Pfäfers und Landquart. Seine Fahrzeit von Zürich bis Chur dauerte genau 3 ¼ Stunden; der ihm entsprechende Vormittagsschnellzug 263 braucht heute nur noch eine Stunde 25 Minuten. Also durchaus Autobahnschnelligkeit, nur schade: Wer einmal ein Auto angeschafft hat, benützt trotz «Qualenseekolonnen» die Bahn nur noch selten!
Richterswil bekam von diesem Vormittagsschnellzug, der im letzten Jahrhundert schon einen Bahnpostwagen mitführte, einen ausgeworfenen Postsack noch bis in die Jahre des zweiten Weltkrieges hinein. Erst damals und nicht schon bei der Erstellung der Doppelspur (Oberrieden-Richterswil 1925, Richterswil-Pfäffikon 1941) wurde nämlich die hiesige Geleiseanlage derart abgeändert, dass zwei gerade Durchfahrten entstanden nun nicht in beiden Richtungen auf ein anderes Geleise abgebogen werden musste. Seit dieser Zeit fuhren auch bei uns die Schnellzüge mit 70-80 statt nur 40 Stundenkilometern durch, und die projektierte Kurvenstreckung bei der Gartenstrasse soll dann sogar 105 Kilometer erlauben! Um auf den Fahrplan zurückzukommen, seien von 1892 noch die Abfahrtszeiten der zehn Züge nach Zürich genannt: 4.38, 5.55, 7.18, 9.05, 11.20, 13.14, 15.20, 17.52, 18.55, 20.34. Bis Zürich-Enge dauerte die Fahrt je nach Zug von 50 Minuten bis zu einer Stunde 28 Minuten, bis Hauptbahnhof 10-12 Minuten länger. Wer ins Theater wollte, musste hier um 17.52 abfahren und die Vorstellung meist vorzeitig verlassen, um im noch bis 1927 «provisorischen», güterschuppenähnlichen Bahnhof Enge um 22.26 den letzten Zug zu erreichen, der um 23.15 hier war.

2 Fahrplanausschnitt 1875, mit Fahrpreis ab Zürich.

Um Brennmaterial zu sparen, wurden die sonst rasch auskühlenden Dampflokomotiven in die von Anfang an hier bestehende Lokomotivremise gestellt und dort vom letzten zum ersten Zug unter Dampf gehalten. Diesem Gebäude verdankte im Bahnjubiläumsjahr 1947 Richterswil auch die Ehre, eine Woche lang nachts den «Sigolinexpress» oder «Spanischbrötlizug» mit seiner zwar sorglich holzverschalten Lokomotive zu beherbergen, als er täglich vierzehn Mal zwischen Wädenswil und Pfäffikon hin- und herpendelte.
Um 1900 sind schon einige Verbesserungen in der Fahrzeit spürbar, ein Personenzug mehr in jeder Richtung und während der Sommersaison auch zwei zusätzliche Schnellzüge, deren einer, der «Engadin-Express», freilich nicht alle Tage verkehrte. Richterswil erhielt damals die erste Post von Zürich um 6.39 und nicht schon um fünf Uhr wie heute, wo die Bahnpostwagen nach Möglichkeit aus den immer mehr beschleunigten Regionalzügen herausgenommen und mit den über längere Haltezeiten verfügenden Eilgüterzügen befördert werden. Umgekehrt verliess der letzte Züricher Postzug Richterswil erst um neun Uhr abends und nicht schon 19.17 Uhr. Die Post aus dem Briefkasten am Bahnhof wird allerdings auch jetzt später nochmals abgeleitet und erreicht in Zürich noch die Nacht- und Frühzüge nach allen Richtungen.

Wie um die Jahrhundertwende eine Zugdurchfahrt vor sich ging, erinnert sich ein Altrichterswiler, Professor Paul Schaufelberger in Chinchina (Kolumbien) in einem Briefe von 1965 noch sehr genau:
«Eine gewisse Zeit vor Ankunft eines Zuges wurde eine bei der Terrasse, wo jetzt der Kiosk steht, aufgehängte Glocke geläutet. Dann kamen die noch heute üblichen Glockensignale. Kam dann der Zug, so pfiff die Lokomotive zum Bremsen. – Das Signal zur Abfahrt gab der Zugführer mit der Trillerpfeife; dann antwortete die Lokomotive und beim zweiten Trillersignal setzte sich der Zug in Beewegung.»
Das Pfeifen zum Bremsen hatte seinen Grund: die durchgehende Luftdruckbremse kam erst in unserem Jahrhundert auf; Kondukteure und besondere mitfahrende Bremser hatten mit den an jedem Wagen vorhandenen Handbremsen den Lokomotivführer beim Anhalten zu unterstützen. Auf Gotthardgüterzügen kamen die auf alle paar Wagen verteilten Bremser im Winter auf ihren offenen Ständen oder in den ungeheizten Bremserhäuschen trotz dickster Kleidung fast immer halb bis ganz erfroren ans Ziel!

Reproduktion einer Originalphoto des Bahnhofes Richterswil von ca. 1901, Format 22 x 17 cm, aufgenommen von Georg Heklau, Photograph, Schanzengraben 31, Zürich II. (Quelle: Tanner/Gattiker Band 8, Ortsmuseum Richterswil)

Personen von links nach rechts:
Bürgli, Barrierenwärter
Schärer Hans, Güterarbeiter
Fritz Georg, Stellwerkwärter
Unbekannt
Pauli, Schrankenwärter
Seiler, Stationsgehilfe
Unbekannt
Hauri Walter, Stationsvorstand
Allensbach, Kassier
Unbekannt
Benz, Güterarbeiter
Rieser, Barrierenwärter
Burkhard, Güterarbeiter
Kümin, Stationswärter
Baer, Schiffsanbinder DGV


1902 ging das Nordostbahnnetzt mit anderen Privatbahnen an die Schweizerischen Bundesbahnen über; offenbar auf diesen Festtag hin liess sich das ganze Richterswiler Bahnpersonal samt Dampfschiffseilanbinder fotografieren, solange noch das «NOB» auf der Mütze glänzte.
Im Kursbuch von 1920 sind die Züge noch nicht zahlreicher geworden; noch bestand Kohlemangel, der schuld daran war, dass wenige Jahre vorher an Sonntagen überhaupt keine Personenzüge mehr fuhren und nur noch die «Milchzüge» mit möglichst wenigen Güterwagen verkehrten. Auch das Wagenmaterial entsprach noch in keiner Hinsicht dem heutigen Anbebot; die ältesten Wagentypen waren noch in Gebrauch; Güterwagen mit am Gotthard weggebremsten Radstellen hörte man bis nach Bäch hinaus «tack – tack – tack» machen! Der Schreiber kann sich genau erinnern, dass noch um 1920 herum, freilich nur als Ausnahmen, Drittklasswagen mit einem heimeligen Zylinderofen in der Ecke verkehrten. Schon seit der «Expo 1964» führen aber sämtliche Personenzüge nur noch Vierachswagen; die dritte Klasse ist längst verschwunden. Beim Dampfbetrieb lief auch selten ein Sonntagsausflug ohne Russteilchen in den Augen ab, und wer in Tunnels auch nur einige Sekunden mit Fensterschliessen zögerte, machte sich bei den Mitreisenden sehr unbeliebt.
Durch den Kohlenmangel gewitzigt, machten sich die SBB in den Zwanzigerjahren an die Elektrifikation, zuerst auf den Bergstrecken. Von Thalwil nach Richterswil nahm man auf den 1. Juni 1927, von Richterswil bis Sargans und Buchs am 15. Dezember des gleichen Jahres den elektrischen Betrieb auf. Die Dreissigerjahre standen im Zeichen der Krise und der Autokonkurrenz, die die Bahn zu ständig vermehrten, wenn auch nicht immer wirtschaftlichen Leistungen zwangen, so dass im Jahre der Landesausstellung 1939 Richterswil 27 tägliche Zugsverbindungen von und nach Zürich hatte. Im Kriegsfahrplan, der unter Voraussetzung gestörter Energiezufuhr und Reservelokomotiven wieder auf «Dampfzeit» berechnet und zweimal (2.9. bis 7.10.1939 und 11.5 bis 8.6.1940) gültig war, ging die Zahl der Verbindungen mit der Kantonshauptstadt freilich auf elf zurück. Heute beträgt sie rund drei Dutzend und die Fahrzeit bis Zürich-Enge sank bei einigen 1977 neu eingeführten Eilzügen mit Halt in Richterswil auf nur 23 Minuten; sie übersteigt eine halbe Stunde nur bei wenigen Zügen.
Von der Strecke wäre etwas noch zu berichten, dass 1927 das Teilstück von Wollishofen bis gegen den Hauptbahnhof zur «Untergrundbahn» mit Bleimanteltunnel unter der Sihl durch umgebaut wurde, was mehrere schwer belastete Niveauübergänge entbehrlich machte. Bäch hatte schon seit 1900 eine Haltestelle, während sich Freienbach noch über ein Vierteljahrhundert bis 1927 gedulden musste. Schon 1875 bedauerte man ja den an finanziellen Fragen gescheiterten Versuch dazu so sehr, dass die Teilnehmer des Eröffnungszuges dort ein steinernes Grabmal mit dunklen Fahnen und der Aufschrift «Station Freienbach» nicht übersehen konnten! «Schon» 1902 bekamen sie ja dann die Haltestelle an der Südostbahn.
Weitere Verbesserungen brachten unserer Linie die Doppelspur Wiedikon-Thalwil 1896, Thalwil-Oberrieden 1923, Oberrieden-Richterswil 1925, Richterswil-Pfäffikon 1931, Pfäffikon-Lachen 1941, Lachen-Ziegelbrücke 1950-1954. Eine angenehme Nebenerscheinung des Doppelgeleisebaues war für uns Richterswiler der vielbenützte Strandweg nach Bäch, der vom Gemeindepräsidenten und nachmaligen Bundesrat Hans Streuli angeregt worden war. (Erinnerungsbrunnen seit 1976 am Wisshusplatz neben Postbaracke). Heute wird der Weg samt den Grünanlagen vor Bäch von unserem Bauamt unterhalten, erst seit kurzem mit Beteiligung der Gemeinde Wollerau. Er bildet ausserhalb der Stadt Zürich einen der längsten, dem Publikum zugänglichen Spazierwege direkt am See. Nach dem zur Ausführung bereiten Umbauprojekt, das vielleicht anfangs der Achzigerjahre begonnen wird, soll er vom Seebad bis zum «Horn» verlängert werden, welcher Industriekomplex 1976 vom Kanton Zürich als zukünftige teilweise Grünanlage erworben wurden. Richterswil mach sich … vielleicht einmal!


4 Bahnhofanlage 1977. 5 Gusseiserne Architektur-Details am Bahnhof.

Mit dem amtlichen Sommerfahrplan 1949 wurde auch erstmals der Umstand, dass immer mehr Vorortszüge bis Pfäffikon verkehrten, dadurch betont, dass das Feld 124 neu auf die Strecke Zürich-Pfäffikon lautete und die vierundsiebzig Jahre lang auf ihren Streckenendpunkt stolzen Richterswiler die Abfahrtszeiten auf einer gewöhnlichen Zeile suchen müssen. Obwohl ja seit der Aufhebung des Zuschlages für Schnellzüge (ungefähr zur selben Zeit) deren Benützung auch durch ihre Vermehrung (Städteschnellzüge!) viele Vorteile bietet, können wir uns mit einigen guten Anschlüssen in Wädenswil, Pfäffikon oder Ziegelbrücke darüber hinwegtrösten, nicht Schnellzugsstation geworden zu sein. Das neueste Sommerkursbuch 1977 bracht aber auch bei uns an der «Pfnüselküste» ausser einigen Eilzugshalten weitere erfreuliche Neuerungen die auf die Entwicklung zu einem sogenannten Taktfahrplan hinzielen, wie er an der «Goldküste» drüben schon seit Jahren sogar halbstündlich besteht. (Züge in jeder Richtung je zur gleichen Minute.) Mit Umsteigen in Thalwil haben wir nn auch mehrere Anschlüsse an die «Zürcher Spinne», d.h. die gegenseitigen Schnellzugsverbindungen vieler Hauptstrecken um die volle Stunde herum.

Der Bahnhof Richterswil

Da nach «vorsichtigen» Prognosen unser vor zwei Jahren hundertjährig gewordene Bahnhof nur noch ein halbes Dutzend Jahre bestehen bleiben dürfte, sei ihm hier noch ein zwar etwas verfrühtes Denkmal gesetzt.
Die Nordostbahn baute alle Bahnhöfe nach dem gleichen Plan, die einen grösser, die anderen um eine oder zwei Fensterachsen kürzer. Nach meiner Erinnerung hatten Thalwil, Wädenswil und Richterswil die gleichen «Aufnahmegebäude II. Klasse: 2 Sommerwartsäle, 1 Güterschuppen mit 3 Toren, 1 Abtritt II. Klasse, 1 Brunnen». Über die Wasserlieferung für denselben liegt in der heimatkundlichen Sammlung noch ein Originalvertrag von 1883, wonach die Nordostbahn ihr benötigtes Wasser für Fr. 20.—jährlich jederzeit von der Brunnengenossenschaft Seebrunnen beziehen konnte. Unterschrift: «Der Brunnenvogt: Heinrich Strickler, Schreiner».
Die Zahl der Geleise, Weichen und Signale dürfte in Richterswil als Endstation des Vorortsverkehrs mit Umstellnotwendigkeit für Züge grösser gewesen sein als andernorts und umfasste ausser Brückenwage und Bockkran auch noch die Drehscheibe für die in der Remise übernachtende Lokomotive, die nicht ausgekühlt werden durfte. Auch enthält der Güterschuppen noch Personalräume und seit der Vergrösserung von 1906 das Bahnmeisterbüro. Nach dem gleichen Inventar verfügt das Aufnahmegebäude über einen Wartsaal von 34 m2 (früherer I.- und II.-Klass-Wartsaal, jetzt Gepäck- und Lagerraum), einen solchen von 48 m2 (jetzt beliebt für einen Jass an der Wärme und als Abstimmungslokal!), einen Schalterraum von 29 m2, ein Büro von 41 m2, sowie zwei Dienstwohnungen mit zusammen 7 Zimmern und 2 Küchen.


6 7 Gusseiserne Architektur-Details am Bahnhof.

Auch eine fahrbare Viehrampe gehörte früher noch ins Inventar. Als die Grossmetzgerei Gattiker, bis in den zweiten Weltkrieg hinein, ihr Schlachthaus noch in Richterswil hatte, wurde damit Grossvieh direkt auf den Perron ausgeladen.
Die Schweine trieb man nach dem Auslad an der Güterschuppenrampe in nicht immer sehr tierschützerischer Weise über den ganzen Bahnhofplatz bis zum Anker, hinter dem die jetzt als Lagerräume dienenden Schlachthäuser stehen. Stundenlang musste die Umgebung das Grunzen, den Treiblärm und die Todesschreie anhören – auch die «Grenzpost»-Redaktionsarbeiten ging damals nicht immer beschaulich und ungestört vonstatten!
Das elektrische Stellwerk wurde in Richterswil auf den 30. September 1973 eingeführt, wobei das bisherige hohe Stellwerkhäuschen abgebrochen wurde. Auch hier macht die Technik nicht halt, und wohl in wenigen Jahren können wir es erleben, dass nach dem Fertigausbau der Bahnhöfe Wädenswil und Richterswil die Züge hier nachts fernbedient vorüberbrausen.

8 Stellwerkhäuschen, abgebrochen 1973. Radierung von Peter Bräuninger, 1972.

Obwohl inwendig im Gebäude manches verändert wurde, sehen wir unsern weit herum «amtsältesten» Bahnhof mit seinem Laubsägedachrand noch genau wie unsere Grosseltern vor hundert Jahren, was ein heimatkundlich verbundener Hobby-Fotograf noch liebevoll festgehalten hat. Seinen wir froh, dass unsere Verkehrsbetriebe in diesen Defizit-Zeiten Altes noch und wieder zu verwerten wissen, wie z. B. den ehemaligen Bahnhof Cham, der in Bäch steht, das elektrische Wiedikoner Stellwerk, das in Richterswil Verwendung fand wie die alte Wipkinger Postbaracke! Dafür dürfen wir auch als letzte an der Strecke noch «eben einsteigen», was an unser tüchtiges Bahnpersonal bei Zugskreuzungen besonders strenge Anforderungen stellt. Hoffen wir, dass es wie seine Kunden, wenn auch nach schwierigen Umbauten, trotzdem innert erlebbarer Zeit zu einem Dienstgebäude kommen wird, welche der Gemeinde und unserer Gegend zum Schmuck gereicht, und das dann ebenso lang der neueste und schönste Bahnhof sein wird wie jetzt der älteste!






Auf Richterswils alten Wirtschaftspfaden

Quelle: Auf Richterswils alten Wirtschaftspfaden 1998 von Kurt Wild

Umwälzung des Verkehrsablaufs durch die Eisenbahn

Einschneidende Änderungen im Verkehrsablauf brachte die Eröffnung des Eisenbahnbetriebs am linken Seeufer im Jahr 1975 mit sich. Die «Bilgerischiffe» machten Pilgerzügen Platz. Vorerst konnte Richterswil zwar seine Position als Umsteigestation bewahren, und auch seine Stellung als Umschlagplatz für den Güterverkehr blieb einstweilen noch intakt, solange Einsiedeln nur mit Fuhrwerken erreicht werden konnte. Aber schon bald änderten sich die Verhältnisse grundlegend zum Nachteil Richterswils.
Seit längerer Zeit waren in Wädenswil Bestrebungen für den Bau einer Eisenbahnlinie nach Einsiedeln in Gang gekommen. Schon 1870 lagen die erforderlichen Konzessionen für einen solchen Eisenbahnbetrieb vor, und die Konkretisierung des Vorhabens wurde so vorangetrieben, dass am 1. Mail 1877 die WädenswilEinsiedeln-Bahn ihren Betrieb mit vorläufig täglich je vier Zügen in beiden Richtungen aufnehmen konnte.

Der Betrieb der WädenswilEinsiedeln-Bahn wurde am 1. Mai 1877 mit je vier Zügen in beiden Richtungen aufgenommen. Zum gleichen Zeitpunkt verkehrten auf der Strecke Richterswil-Zürich und umgekehrt je sieben Züge der Schweizerischen Nordost-Bahn.

Hatte Richterswil am 20. September 1875 mit der Betriebsaufnahme der Strecke Zürich-Näfels einen ersten Bahnanschluss der Schweizerischen Nordostbahn erhalten, so kamen am 1. Mai 1877 zwei weitere der WädenswilEinsiedeln-Bahn hinzu. Seither verfügen die Richterswiler, mit anderen Worten, über drei Bahnstationen: Richterswil-Dorf, Burghalden und Samstagern.

Die alte SOB-Station Burghalden.



Die alte SOB-Station Samstagern.

An diesem Tag wurden die Postkurse Richterswil-Einsiedeln eingestellt, und am 5. Mai schrieb Drei-Königen-Wirt August Gattiker infolge dieser Betriebseinstellung in der «Grenzpost» zwölf «zu jedem Dienst taugliche Pferde» zum Verkauf aus. Das Postkutschen-Zeitalter war in Richterswil an seinem Ende angelangt, nachdem auch die 1878 versuchsweise betriebene Pferdepost über Wollerau nach Schindellegi wegen ungenügender Frequenz und Unrentabilität hatte eingestellt werden müssen.

Verlust der verkehrsgeographischen Vorteile

Die Absicht der Wädenswil Eisenbahn-Initianten war es, Wädenswil anstelle von Richterswil zur Umsteigestation und zum Umladeplatz für den in Richtung Einsiedeln laufenden Pilger- und Güterverkehr zu machen, weil man sich davon reichen wirtschaftlichen Nutzen versprach. Die Richterswiler hatten das Vorhaben vergeblich zu verhindern versucht. In einer eigens zu diesem Zwecke abgefassten Broschüre, die in tausend Exemplaren verbreitet wurde und deren Kosten die Gemeinde trug, sagten sie dem Unternehmen Unrentabilität und Kapitalverluste voraus. Sie hatten es aber selber verpasst, ernsthafte Anstrengungen zu unternehmen, um rechtzeitig ein eigenes Bahnprojekt für die Verbindung mit Einsiedeln so voranzubringen, dass Richterswil seine jahrhundertelang gehaltene Position als Umlade- und Umsteigestation hätte halten können.
So ging diese Stellung nun aber verloren. Richterswil wurde dadurch verkehrspolitisch zwar in eine Ecke abgedrängt, aber zu Krisenerscheinungen in seinem Wirtschaftsleben kam es deswegen nicht. Wohl ergaben sich daraus zwangsläufig Umstellungen im lokalen Wirtschaftsgefüge. Diese konnten aber ziemlich schadlos überstanden werden, weil von den industriellen Aktivitäten zu jener Zeit noch eine Pufferwirkung ausging, welche die durch die Schrumpfung des Schiffahrts- und Speditionsgewerbes sowie durch die Ausfälle im Gastgewerbe entstandenen Einbussen aufzufangen vermochte. Bezeichnend dafür ist, dass die hiesige Einwohnerzahl in jener Periode 1870 und 1880 um volle 8 Prozent (gegenüber z.B. nur 4 Prozent in Wädenswil). Die Industrie war zum dominierenden Wirtschaftsfaktor geworden.